Nummer 1 – November 2012
AUFRUHR
Nummer 1, Jahr I
Anarchistisches Blatt
Erscheint jeden Monat
Zürich, November 2012
Inhalt:
EDITORIAL
Freiheit
Von der sozialen Befriedung
Kritik der idealen Gesellschaft!
Unruhenachrichten
Zitate
Als PDF-Datei.
EDITORIAL
« Hundertmal zurückgeschlagen unternehmen wir zum hundert und einten Male den Angriff. Wahrlich! das sind schlechte Propheten, die den Tod des Anarchismus verkündigen! Er kann nicht sterben, solange Ausbeutung und Knechtschaft bestehen. » Dies sind die Worte, mit denen eine anarchistische Zeitung vor mehr als 100 Jahren in Zürich ihre Publikation begann, und dies sind auch die Worte, mit denen wir unseren Aufruhr beginnen wollen. Die Zeiten haben sich verändert, und mit ihnen auch die Formen der Knechtschaft, doch unsere kompromisslose Vorstellung von Freiheit ist dieselbe geblieben. Eine Freiheit, die mit jeglicher Form von Herrschaft unversöhnlich ist, sei sie diktatorisch oder demokratisch, roh oder subtil, materiell oder geistig. Und es ist dieses Verlangen nach Freiheit, nicht als ein fernes Ideal, sondern im Hier und Jetzt, das uns ewig auf dem Weg der Rebellion vorantreiben wird…
Freiheit
Wir sind für die Freiheit, wie es viele, wenn nicht praktisch alle sind. Aber dann, wenn unsere Gesellschaft doch behauptet, auf dem Prinzip der Freiheit zu basieren, wieso befinden wir uns in Konflikt mit ihr und werden wir es immer sein?
Dieser Konflikt, der übrigens schon seit immer und in unterschiedlichen Formen existierte, geht aus einer radikal verschiedenen Auffassung der Bedeutung von Freiheit hervor; ein Wort, das schon immer für Verwirrung gesorgt hat, da es im Verlauf der Geschichte und je nach sozialem Kontext und je nach den Personen, die es gebrauchten, unterschiedliche Bedeutungen annahm.
Wenn wir einen Blick auf die Vergangenheit werfen, können wir sehen, wie die Freiheit in der Antike, in den griechischen und römischen Gesellschaften, für einen Teil der Bevölkerung dem Konzept des Bürgers (der Polis oder der Republik) entsprach. Ein Mensch, der als frei betrachtet wurde, war ein Mensch, der sich am politischen Leben der Gesellschaft beteiligte; indem er beispielsweise in der griechischen Polis, welche die Inspirationsquelle unserer modernen Demokratie ist, an den Versammlungen teilnahm, die nach einem System von direkter Demokratie funktionierten, um über das Schicksal seiner Stadt zu entscheiden. Der freie Mensch brauchte daher, um existieren zu können, sein Gegenteil: den Sklaven, ein Individuum, das, da es nicht als ein menschliches Wesen betrachtet wurde, nicht über sein eigenes Leben entscheiden konnte, und das die Bürger durch seine Arbeit von der notwendigen Zeit befreite, um „Politik zu machen“. Für einen anderen Teil der Gesellschaft, jenen der Sklaven, nahm die Freiheit hingegen eine andere Bedeutung an. Diese bestand nicht darin, Bürger zu werden, sondern bestand in der Negierung der eigenen Bedingung als Sklave, eine Negierung, die auch die Negierung der Bedingung des Bürgers implizierte; sie bestand darin, die Fähigkeit wiederzuerlangen, über das eigene Leben entscheiden zu können. Diese beiden einander entgegenstehenden Auffassungen von Freiheit liegen den Sklavenaufständen zugrunde, die besonders die römische Epoche gekennzeichnet haben, in der für die Sklaven der einzige Weg, ihre eigene Bedingung zu negieren, in der Flucht oder in der offenen Rebellion gegen die Gesellschaft bestand, indem sie die Waffen aufnahmen.
Heutzutage, auch wenn sich sicherlich vieles verändert hat, stehen wir vor demselben Dilemma: auf der einen Seite wird die Bedeutung von Freiheit innerhalb unserer Gesellschaft definiert als begrenzte Möglichkeiten, die von der Gesellschaft selbst durch allgemeine Gesetze oder eine gemeinsame Moral garantiert werden. Möglichkeiten, die, wie man leicht erkennen kann, von unserer Stellung innerhalb der Gesellschaft (wirtschaftliche Lage, „Prestige“,…) abhängen, und die sich folglich sowohl mit der Verfügbarkeit von Geld, wie mit unserem sozialen Status vermehren: wer reicher ist, hat mehr mögliche (materielle, kulturelle und vergnügungsbezogene) Auswahl vor sich, als derjenige, der nichts besitzt, und zum Überleben und zur Abwesenheit einer wirklichen Wahl verurteilt wird. Wer sein Elend nicht akzeptiert und sich gegen diesen Zustand auflehnt, wird isoliert und weggesperrt. Die „Freiheit“ einiger bedeutet also die Abwesenheit von Freiheit und die Ausbeutung der anderen.
Auf der anderen Seite hingegen haben wir die Freiheit, von der wir Anarchisten sprechen, die etwas ganz anderes ist. Es handelt sich nicht um eine Vergrösserung der möglichen Auswahl, sondern im Gegenteil, um den Ausdruck aller Möglichkeiten, verschiedener Möglichkeiten, die sich durch die anderen Menschen eröffnen können. Es handelt sich also um ein absolutes, und nicht um ein quantifizierbares Konzept, um eine Totalität, oder in einfachen Worten: man ist entweder frei, oder man ist es nicht. Man kann nicht mehr oder weniger frei sein, ebenso, wie eine längere Kette für einen Sklaven nicht bedeuten kann, weniger Sklave zu sein. Unsere Freiheit ist also etwas, das nicht innerhalb von verallgemeinerbaren Gesetzen und Regeln eingegrenzt werden kann, sondern etwas, das aus der freien Übereinkunft zwischen Individuen entsteht.
Wie leicht zu erkennen ist, kann eine solche Freiheit nicht existieren, ohne die Welt, in der wir täglich leben, infrage zu stellen und mit ihr zusammenzuprallen. Dies ist eine Feststellung, die schon vor mehr als 2000 Jahren Spartakus und seine Abenteuergefährten machten, als sie sich gegen die römische Republik auflehnten. Eine Lektion der Vergangenheit, die uns vielleicht auch heute noch etwas lernen kann…
Ein Abenteurgefährte von Spartakus
Von der sozialen Befriedung
Seien wir doch zufrieden. Wieso uns unnötige Anstrengungen machen? Wieso uns mit der Welt auseinandersetzen, in der wir leben? Wieso die Sicherheit der Alltagsroutine aufgeben, und für die Freiheit kämpfen, obwohl sie uns nur Ungewisses, nur Unbekanntes zu bieten hat, obwohl wir doch nicht einmal wissen, wie diese Freiheit aussehen soll?
Diese Dinge, die gehören doch der Vergangenheit an. Das sind Anstrengungen, die heute nicht mehr in Mode sind. Wenn der Kampf für die Freiheit einst Menschen mit Leidenschaft erfüllte, so existiert er heute vor allem noch als Karikatur seiner selbst, in Filmen und in Büchern – oder als verstarrte Ideologie. Und Ausserdem, heute sind wir doch frei. Heute, hier in der Schweiz, haben wir doch alle die Möglichkeit, unsere eigene kleine Welt so einzurichten, wie es uns passt. Selbst jene, denen diese Welt widerstrebt, haben die Möglichkeit, ihre kleine alternative Alltagsrealität, ihr „Mileu“, ihre „Szene“ einzurichten, worin sich all das vergessen und verdrängen lässt, was einem doch eigentlich so widerstrebt. Geht man der Konfrontation aus dem Weg, eckt man auch nicht an. Dies scheint die Devise der meisten Leute zu sein. Doch eben hier liegt der Kern des Problems: die Freiheit lässt sich nur ertasten, wenn wir die Konfrontation suchen, wenn wir willentlich an den Grenzen rütteln, die uns aufgezwungen werden. Denn wer sich nicht bewegt, spührt auch seine Ketten nicht.
Die soziale Befriedung, der relative materielle Wohlstand und die demokratische Ideologie lassen uns vergessen, dass wir in Wirklichkeit, heute genauso wie früher, hier genauso wie anderswo, täglich der Möglichkeit beraubt sind, frei über unser Leben zu entscheiden. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die in Wirklichkeit mit Gefängnissen, Polizisten und Autoritäten aller Art dafür sorgt, uns in Zaum zu halten, damit wir nach Regeln funktionieren und einer Wirtschaft dienen, die zugunsten der Reichen und der Machthabenden errichtet wurden. Mit Brot und Spielen liessen wir uns zufriedenstellen, so sehr, dass es scheint, wir hätten die Fähigkeit verloren, uns überhaupt noch vorzustellen, geschweige denn zu ertasten, was jenseits des Bestehenden möglich sein könnte, was Freiheit sein könnte. Und so haben wir aufgehört, diese alltägliche Freiheitsberaubung als solche zu empfinden.
Nun, wie uns auch die Geschichte der Menschheit lehrt, ist es leider selten so, dass das Verlangen nach Freiheit von selbst soweit anwächst, bis es die Unterdrückung in ihren verschiedenen Gesichtern erkennt und gegen sie in Aufstand tritt, sondern meistens so, dass die Unterdrückung soweit anwächst, bis der Aufstand zur Notwendigkeit wird. Heute können wir in vielen Ländern sehen, wie die Situation der ärmeren Schichten zunehmends untragbarer wird, wie sich bedeutende soziale Konflikte abzuzeichnen beginnen und die Befriedung langsam aber sicher bröcklig wird. In Griechenland folgen Revolten auf Revolten, in England explodieren die sonst so ruhigen Städte plötzlich vor Wut, in ganz Spanien gehen die Unzufriedenen massenhaft auf die Strassen, während die vergangenen Aufstände auf der anderen Seite des Mittelmeeres die Rebellen auf dieser Seite ermutigten. Der rasche Abbau der „sozialen Einrichtungen“, mit denen sich die Regierungen während der letzten Jahrzehnte den sozialen Frieden erkauften, lässt die Wohlfahrtsillusionen dahinschmelzen und führt vielen wieder deutlich vor Augen, worauf diese Gesellschaftsordnung nach wie vor basiert: auf der bedingungslosen Ausbeutung der meisten zum Profit von wenigen. Die Konfrontation mit den Grenzen, die sich immer mehr verengen, macht vielen Leuten wieder deutlich, was ihre Rolle in diesem Herrschaftssystem ist; inwiefern sie noch immer blosse Sklaven der Wirtschaft jener sind, die von ihr profitieren (früher nannte man sie Bourgeoisie); inwiefern jedes Stückchen Freiheit, das sie zu besitzen glaubten, nur eine Gefälligkeit der Bosse und der Regierenden war, die zugestanden wurde, solange es ihre Privilegien nicht in Gefahr brachte. Nun aber, da ihre Wirtschaft krank zu sein scheint, werden die Zügel angezogen und diejenigen, die sowieso schon unten durchgehen, sollen für sie den Gürtel noch enger schnallen.
Wie oben erwähnt, scheint es auch diesmal die Verschlechterung der Bedingungen, das Anwachsen der Unterdrückung zu sein, welche das Konfliktpotenzial ansteigen lassen. Aber sind die Bedingungen nicht sowieso schon schlecht genug, um immer und überall in Aufstand zu treten? Würde es nicht sowieso schon genügen, dass wir, auch hier in der Schweiz, in einer Welt leben, in der uns jeder falsche Schritt in eine Knastzelle bringen kann, in der uns ein fehlender Fetzen Papier gefesselt in ein Ausschaffungsflugzeug führen kann, in der uns eine unbeugsame Haltung Knüppelschläge der Polizei einkassieren lässt, in der wir unsere Lebenskraft einem Boss verkaufen sollen, um selbst gerade so über die Runden zu kommen, während seine Taschen sich füllen? Leben wir nicht sowieso schon in Städten, in Wohnblöcken, die uns ersticken? Ist die Revolte nicht sowieso, hier und jetzt, eine Lebensnotwendigkeit, eine Grundvoraussetzung, um sich in dieser entfremdeten Welt wieder selber zu spüren?
Wir denken nicht, dass der Kampf für die Freiheit ausschliesslich von der Verschlechterung der Überlebensbedingungen ausgehen kann, sondern dass er von unserer Idee von Freiheit ausgehen muss, die dem Funktionieren an sich dieser Welt entgegensteht. Erst wenn wir es schaffen, aus dem oben beschriebenen „Gesetz“ der Geschichte auszubrechen, und unsere Revolte nicht mehr auf eine blosse Notwendigkeit, sondern auf eine Idee, auf eine Vorstellung von dem stützten, was jenseits der gegebenen Grenzen möglich wäre, können wir der Freiheit wirklich näher kommen. Denn die Bedürfnisse das Bauches, die wirtschaftlichen Nöte, können durchaus auch anders angegangen werden. Es gibt immer solche, die ein alternatives Herrschaftssystem zu bieten haben. Es gibt auch den autoritären Kommunismus und den Staatssozialismus. Die Freiheit aber stösst sich an jeder Form von Autorität. Freiheit bedeutet für uns Anarchie, also die Abwesenheit von jeglicher Form von Herrschaft.
Darum ist es unsinnig, darüber zu debattieren, ob es hier in der Schweiz weniger Gründe gibt, um zu revoltieren, als in den Ländern um uns herum. Wenn Freiheit nur eine Welt bedeuten kann, in der alle frei sind, eine Welt also, in der wir ohne Gefängnisse, Autoritäten, Beamte und Gesetze auskommen, in der wir Geld und Wirtschaft beseitigen, damit Solidarität und gegenseitige Hilfe sich entwickeln können, dann ist es leicht, zu erkennen, inwiefern wir auch hier in der Schweiz alles andere als frei sind. Wenn die Herrschaftsstrukturen, die diese Freiheit verunmöglichen, in konfliktreicheren wie in befriedeteren Ländern dieselben sind, dann muss die Unterdrückung, in ihren Strukturen und Menschen, auch hier in der Schweiz in Angriff genommen werden.
Die Frage, inwiefern man diese Unterdrückung empfindet, inwiefern es einem die Anstrengung wert ist, sich selbst zu befreien, ist eine Sache. Nur ist es meistens so, dass dies Hand in Hand geht mit den Verleumdungen, dem Geschrei, den Anklagen, den Empörungen gegenüber den Rebellionen, die sich immer wieder auf verschiedenste Weisen ausdrücken, manchmal schwieriger zu entziffern, manchmal klar wie die Barrikaden. Denn wer den Konflikt umgeht und seinen Frieden bewahren will, sieht sich durch die Revolten der anderen gestört. Die soziale Befriedung bringt die Menschen somit dazu, sich willentlich oder unbewusst auf die Seite der Normalität, der bestehenden Ordnung, und somit auf die Seite der Unterdrückung zu stellen, die sie für den grössten Teil der Menschen bedeutet. Im Namen der eigenen Fügsamkeit und Unterwerfung spricht man den anderen das Recht ab, unfügsam und ununterworfen zu sein. Während man selbst den Geschmack für Freiheit verloren hat, verlangt man von allen, die ihn noch zu schätzen und zu kosten wissen, dieses fade Leben zu akzeptieren.
Aber es gibt Menschen, die bewusst oder spontan, eine Unbeugsamkeit, eine Empfindung der eigenen Würde entwickeln, die mit dieser Welt unvereinbar ist; Menschen, die ihr Verlangen nach Freiheit nicht in dem Rahmen einsperren können, den uns die Institutionen und Autoritäten vorschreiben; die nicht akzeptieren werden, ihren Horizont auf den Boden vor den eigenen Füssen zu beschränken, weil man uns zwingen will, mit gebeugtem Kopf durchs Leben zu gehen. Und unter diesen Menschen, die die soziale Befriedung gewaltsam zurückweisen, können Komplizenschaften entstehen, in einem freien Zusammenspiel von Revolten.
Ein Aufrührer
Kritik der idealen Gesellschaft
Wenn sich die Frage der Revolution stellt, wird meist sogleich die Frage nach dem „nach der Revolution“ gestellt. Natürlich stellen sich viele, die über die herrschenden Zustände hinaus wollen, die Zukunft jenseits des Staates, die Möglichkeiten, die sich dann auftäten, auf die eine oder andere Weise vor. Diese Vorstellungen können eine Motivation zum Kämpfen sein. Aber es gibt eine Art und Weise, dieses Thema zu behandeln, die wir mit Kritik betrachten. Es ist dies das Aufstellen von künftigen Gesellschaftskonzepten und Organisationsprinzipien. Und wir sprechen gar nicht erst von den Fantasien der Eroberung der Macht, um dann – obwohl sich dieser angeblich auflösen soll – einen neuen Staat zu errichten; kämen diese Pläne irgendwann zur Anwendung, wären ihre Anhänger offensichtlich unsere Feinde. Doch auch unter Revolutionären, die der Autorität zumindest nicht huldigen wollen, scheint das Bedürfnis gross zu sein, dieser Gesellschaft eine andere entgegenzusetzen. Diese entgegengesetzte Gesellschaft soll die volle Freiheit garantieren (oft sogar mittels von Rechten, worauf ich hier nicht näher eingehe). Sie wird dann in ellenlangen Abhandlungen dafür gepriesen, keinen Menschen auszuschliessen und die volle Freiheit (und dazu sogar noch Friede, Freude und Eierkuchen) zu ermöglichen, und beantwortet die Frage „Wie soll denn eine freie Gesellschaft aussehen?“ mit einer Leichtigkeit, die stutzig macht. Das alles wirkt dann, je nach Beispiel, mehr oder weniger überzeugend, und sollte, zumindest in den Hoffnungen ihrer Autoren, jeden vernünftigen Menschen überzeugen. Und es hat viele überzeugt, sie sind auf die Barrikaden gegangen und haben ihr Leben dafür gelebt. Dass dies für ein Paradies getan wurde, das als solches natürlich nie erreicht werden kann, ist ein Vorwurf, der den Gesellschaftsmodellen gerechtfertigterweise gemacht wird. Doch die Problematik mit ihnen geht weit darüber hinaus. Denn wenn wir uns darauf einlassen, zu beweisen, dass „die Anarchie funktioniert“, ist das ein Anbiedern an den Horizont derjenigen, die sich das Leben nur als Funktionalität vorstellen können.
Es ist einleuchtend: mittels der Gesellschaftsmodelle soll der negierenden Kritik des Anarchismus etwas Positives zur Seite gestellt werden, soviel ist klar. Dies meist als Antwort auf die Abweisung der anarchistischen Kritik durch die Aussage: „Stimmt ja alles, aber was wäre denn die bessere Lösung?“. Und, anstatt zu antworten, die Anarchie eben, die Negation der Herrschaft, wird versucht, diese Negation mit wunderschönen positiven Bildern auszuschmücken; was dazu führt, dass die Utopie immer mehr dem Bestehenden gleicht, denn es ist einzig die Perspektive der Verwaltung einer Gesellschaft, die zum Ausdruck kommt, und mittels derer das Ganze den Bürgern schmackhaft gemacht werden soll. Das Leben, das immer jeder Systematik entflieht, kann in dieser Perspektive gar nicht vorkommen, es wird in jeder „funktionierenden Gesellschaft“ ein Störfaktor bleiben. Doch die Anhänger der „idealen Gesellschaft“ beharren auf der Behauptung, dass die Gesellschaft X allen die Freiheit ermöglicht (was übrigens schon heute alle Gesellschaften von sich behaupten), untermauert mit ein paar klugen Erkenntnissen, die das ganze beweisen sollen.
Um ein Rezept für eine utopische Gesellschaft zu entwerfen, braucht es irgendein positives Menschenbild, das als Garant dafür dient, dass, wenn einmal die Bedürfnisse des konstruierten Menschens gestillt werden, er zugänglich, sozial und friedlich wie ein Lamm sein wird, und dass dieses Lamm dies aus freiem Willen ist. Und deshalb werden Konzepte entworfen, die alle umfassen sollen, alle wären darin frei und Konflikte werden „unnötig“ sein. Konzepte, die nicht als experimenteller Versuch, sondern als Lösung präsentiert werden. Denn, so wird behauptet, wenn einmal alle in diesem Modell leben würden, gäbe es keinen Grund für „böse Taten“ mehr.
Und so folgt dem Wunsch nach einer perfekten Gesellschaft das Verlangen danach, die Einzelnen zu bändigen, nicht das Risiko einzugehen, das der Kontrollverlust birgt: Dass die Einzelnen unsoziale Entscheidungen treffen könnten, dass die Einzelnen nicht das tun, was die (jeweilige) Gesellschaft will. Um dies zu verhindern, soll natürlich keine rohe Herrschergewalt – die von ihrer oberflächlichen Herrschaftskritik noch erkannt wird – angewendet werden, nein, die Mittel werden die unscheinbaren Zwänge der Pädagogik, der Erziehung und der Moral sein. Diese Domestizierung wird versprochen, um genau die Feinde der Anarchie zu überzeugen: „Die Anarchie ist nicht der Alptraum, den ihr habt, sie ist doch der Zustand, den jeder gute Mensch wollen muss“, wird gestottert. Doch die Bürger verstehen meist schon: Diese Wunschträume sind naiv; und so finden sie die Utopien schön und gut, als konsumierbare Ware, die ihr Desinteresse an der Welt nur auf‘s Neue bestätigen, und sehen ein: solche Konzeptionen kratzen sie nicht, denn sie ändern nichts am Leben…
Der Bändigung der Einzelnen als Utopie folgt meist die Bändigung der Einzelnen in der Praxis. Der Kampf wird dann für die zukünftige Gesellschaft geführt, und nicht mehr aus dem alltäglichen Leben heraus; ist nicht mehr ein Kampf für das eigene Leben nach eigenem Geschmack, sondern die Unterwerfung dieser beiden einem höheren Ideal, zu dem es dann nur noch strategische Wege gibt. Und daraus ergibt sich dann die Disziplin und andere Schweinereien. Und jede Revolte, jede Gewalttat wider die heutigen Zustände, muss dann über den Umweg des Kampfs für das Ideal legitimiert werden. Vielleicht rührt es daher, dass so viele nur die Freiheit für die politischen Gefangenen fordern, für diejenigen, die für das edle politische Ideal einsitzen.
Für den Kampf gegen den Staat und die Gesellschaft brauchen wir wohl keine Legitimation. Wenn wir diese Ordnung angreifen, wieso nicht sagen: weil wir dies nun mal wollen. Weil wir erkannt haben, wer unsere Feinde sind. Und nicht aufgrund der höheren Legitimation durch das Ideal, die Zukunft, was auch immer. Wenn wir den Kampf gegen Herrschaft trotzdem mit grösster Anstrengung führen, uns sogar Pläne vorstellen, wie wir das Ende dieser Ordnung herbeiführen können, wie wir Beziehungen erschaffen können, die nicht auf der Unterdrückung basieren, uns fragen, wie wir das erreichen können; dann weil wir das einfache Bedürfnis danach haben. Auch die Gesellschaftskonzepte entstehen aus diesem Bedürfnis, aber sie entstehen auch aus einem zweiten Bedürfnis, nämlich, die Fragen des Lebens für alle – und ein für alle mal – zu lösen. Und so wollen sie uns von der Verantwortung, die die Freiheit nun mal mit sich bringt, erlösen. Sie fassen das gefährliche Spiel des Lebens in Konzepte, die die wunderschönsten, unterschiedlichsten chaotischen Experimente ausschliessen.
Denn dies sind die Alpträume des Bürgers: dass ihm in seine kleine heile Welt hineingepfuscht werden könnte, die die Sphäre seiner Privatheit bildet. Dass es sein könnte, dass die Bedürfnisse, die er hat und die er für die Bedürfnisse „des Menschen“ hält, nur die Bedürfnisse seiner Anpassung, die Bedürfnisse nach Mittelmass und Kontrolle sind. Entgegen der Auffassung der Gesellschaftskonzeptoren können wir nur von unseren eigenen Bedürfnissen reden, und denken wir, dass die einzige Ermöglichung der Freiheit das Erlernen der Freiheit ist. Die Bedürfnisse „des Menschen“ interessieren uns vielleicht dann, wenn wir uns in ihnen wiederfinden, aber es wird immer eine ganz andere Freiheit sein, die wir nur in einem Experiment des Bruchs mit allen Werten der Herrschaft erproben können. Falls wir irgendeinmal zum Genuss der Möglichkeit kommen, dieses Experiment in solchen sozialen Ausmassen zu erproben, wie es die Welt noch nicht gesehen hat (und das ist unsere Absicht), wird das wichtigste, um die Freiheit zu höheren Formen zu bringen, nicht ein Konzept für Güterverteilung, den perfekten Entscheidungsfindungsprozess und schon gar nicht ein Regelwerk sein, sondern die Fähigkeit der Freiheit (und ihrer Verteidigung), die Fähigkeit zum Umgang miteinander, und die volle Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, und nicht auf eine zukünftige Projektion. Die Frage ist also nicht, was die endgültige Lösung ist, sondern, wie wir (inter)agieren, welche Wege wir gehen und was wir aus den Möglichkeiten machen. Erst diese Herangehensweise ermöglicht eine soziale Verbreitung der anarchistischen Ideen, und nicht eine bloss vergrösserte Anhängerschaft von irgendwelchen Zukunftsträumen.
Denn der ganze Diskurs der Ausarbeitung eines Lösungsmodells ist auf die ein oder andere Art das Aufgeben der Verantwortung. Denn, eine „Gesellschaftsordnung“ kann funktionieren, und ihr Funktionieren hängt nicht von mir ab. Eine „Gesellschaftsordnung“ gibt mir Freiheit, ich habe dann also keinen Grund mehr, mir die Freiheit zu nehmen, denn schliesslich ist in einer „anarchistischen Gesellschaft“ jeder frei… Dies ist die Logik, die sich einschleicht, sobald behauptet wird, dass die Anarchie erreicht sei, vollendet sei.
Auf dass wir diesen Zustand nie erreichen! Den Zustand, in dem die Freiheit bloss das passive Funktionieren ist, das keine Veränderung kennt. Den Widerspruchslosen Zustand. Den Zustand überhaupt… Denn wenn es irgendwann einen Zustand geben soll, den die Leute, den Ich als Endzustand, als Perfektion begreifen soll, so wäre das das Ende des sich immer verändernden und frei entwickelnden Lebens. Es wäre „die beste aller Welten“, wie sie sich uns heute schon präsentiert.
Es ist nicht so, dass ich mir keine perfekte Gesellschaft denken kann; ich will es nicht. Weil jeder Zustand, der mich als passives will – als blosses Mitglied – meine Aktivität ausschliesst. Und wenn einmal einer daher kommt und sagt: „das, was wir euch anbieten, ist die Freiheit“, so sagen wir: Die Freiheit kann nicht gegeben werden, sie ist das, was wir uns nehmen, und erhebt sich meilenweit über jedes platte Modell.
Unruhenachrichten
Sabotage und Konfrontation bei Protesten gegen das PJZ
Ein Haufen von etwa 150 Personen versammelt sich am Samstagabend dem 27. Oktober auf dem Vorplatz des alten Güterbahnhofs in Zürich, dort, wo bald ein neues Mahnmal der Einsperrung und Kontrolle über das Quartier thronen soll: das neue Polizei und Justizzentrum (PJZ). Der Protest, der sich allgemein gegen die erdrückende Stadtentwicklung richtete, sieht sich sogleich mit der Polizei konfrontiert, die mit Gummischrott-, Tränengas- und Wasserwerfereinsatz den Zugang zum Langstrassenquartier versperren will. Aus einem Protest wird somit rasch eine aktive Konfrontation, in deren Verlauf Barrikaden errichtet, Baumaschinen beschädigt und die selbsternannten Hüter mit Steinen beworfen werden, während einige ihrer Autos Schäden davontragen. Ausserdem wird eine der Mitbeteiligten am Bau des neuen Bestrafungskomplexes sabotiert: die SBB, die das besagte Güterbahnhofareal für das PJZ verkauft hat, und die im Übrigen auch bei Gefangenentransporten und Ausschaffungen stets gerne behilflicht ist, findet am nächsten Morgen mehr als 10 ihrer vor Ort parkierten Autos mit plattgestochenen Reifen vor. Rund um den alten Güterbahnhof wurden einige Sprayereien hinterlassen, wie « JZ niemals – Sabotage, direkte Aktion und « achen wir unsere Leben Bullenfrei .
Wie in einem Flugblatt gesagt wurde, dass an diesem Abend unter den Protestierenden verteilt wurde, denken auch wir, « ass „Nein“ sagen alleine nichts bringt, wenn es nicht auch mit einer aktiven und direkten Intervention verbunden ist. […] Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, sollten wir diese Intervention nicht an irgendwelche Politiker delegieren, indem wir uns selbst auf die Rolle beschränken, „Druck auszuüben“. Dann müssen wir diese Intervention in unsere eigenen Hände nehmen. Genauso, wie wir unser ganzes Leben und die Welt, die man uns entrissen hat, wieder in unsere eigenen Hände nehmen wollen. Und zwar durch « ie Verweigerung, die Sabotage und den direkten Angriff gegen die Interessen, die dafür verantwortlich sind.
Gefängnisausbruch
Ein Gefängnisausbruch, wohl eine der deutlichsten Gesten, die das menschliche Drängen nach Freiheit ausdrückt; wer, der dieses Drängen selbst in sich spürt, könnte sich nicht daran erfreuen, wenn er von einer solchen Geste hört? Wir jedenfalls haben uns in der Geste der sechs Häftlinge wiedererkannt, die Ende Oktober den Mut hatten, den Ausbruch aus der Haftanstalt in Orbe (VD) zu wagen. Mit improvisierten Werkzeugen öffneten sie die Schlösser ihrer Zellen, bevor sie durch den Gang ein Büro erreichten, wo sie durch ein eingeschlagenes Fenster in den Hof gelangten. Trotz des ausgelösten Alarms und der Intervention der Polizei mit 23 Patrouillen und einem Armeehelikopter, gelang es zwei von ihnen, an der frischen Luft zu bleiben. Ob sich diese Ausbrecher vielleicht von ihren Vorgängern ermutigen liessen, die bereits ein paar Monate zuvor die Flucht aus demselben Gefängnis wagten? Ob sie ihrerseits, mit ihrer Geste, in anderen, innerhalb sowie ausserhalb der Gefängnismauern, das Drängen nach Freiheit ermutigten konnten?
Rechnungsbegleichung?
Vergangenen Monat wird in der Innerschweiz einem Auto ein Hinterhalt gestellt; das Auto nähert sich, das Feuer wird eröffnet, der Fahrer wird erschossen. Nein, hier handelt es sich nicht um eine Rechnungsbegleichung unter Mafiosi, sondern um die Rechnungsbegleichung der Gesellschaft gegenüber einer Person, die es wagte, sich über das heilige Eigentum hinwegzusetzen; eine Person, die nicht akzeptieren wollte, dass einige im Übermass besitzen, während man selbst zum knappen Überleben verurteilt ist. Bei dem Fahrer handelte es sich angeblich um einen Autodieb, zudem noch mit migrantischem Hintergrund. Zwei Indizien, die diesen Mord einwandfrei rechtfertigen, wie aus der Presse hervorgeht, die sich einzig um die „psychologische Schädigung“ der polizeilichen Mörder erbarmt. Die Menschlichkeit und Geschichte des „Autodiebes“ steht gar nicht erst zur Frage. Wer die Regeln des tristen Spiels verletzt, das uns aufgezwungen wird, verliert seine Menschlichkeit, und wird als solcher auch gerichtet…
Zitate
« Man sorgt dafür, dass der Hund geduckt in seine Nische zurückkehrt, indem man ihm Hühner- und Taubenknochen verspricht; den Wolf, und sei er auch hungrig, lockt man nicht mit solchen Versprechen… Der Hund ist nunmal ein domestizierter Kläffer, ein zivilisiertes Subjekt, der Wolf hingegen, er, ist ein unverbesserlicher Anarchist, ein feuriger Liebhaber der Freiheit.
Soll doch Hund sein wer will… ich mag lieber Wolf sein! »
Joseph Déjaque, 1859
« Man kann kaum glauben, wie das Volk, sobald es unterworfen ist, plötzlich in ein so tiefes Vergessen der Freiheit fällt, dass es ihm nicht möglich ist, sich aufzuwecken, um sie sich zurückzuholen; so aufrichtig und so freiwillig dienend, dass man bei seinem Anblick sagen würde, dass es nicht seine Freiheit, sondern seine Knechtschaft verloren hat. Es stimmt, dass man zu Beginn durch Gewalt gezwungen und besiegt wurde; doch jene, die danach gekommen sind, die die Freiheit nie gesehen haben und nicht wissen, was sie ist, dienen ohne Reue und tun freiwillig das, was ihre Vorgänger unter Zwang getan haben. »
Etienne de la Boétie, 1550