Nummer 6 – April 2013

aufruhr 6


AUFRUHR 
Nummer 6, Jahr I

Anarchistisches Blatt
Erscheint jeden Monat
Zürich, April 2013


Inhalt:

Auf niemandes Seite
Ein fernes Land
Über die Frage der Organisation
Zitate


Als PDF-Datei.


 

 

Auf niemandes Seite

Ich habe wie alle diverse Probleme in meinem Leben: Ich bin gezwungen, meine Zeit und meine Fähigkeiten zu prostituieren, indem ich arbeite, um im Austausch das Notwendige zu erhalten, das ich brauche, um in dieser Welt, die ich nicht akzeptieren kann, zu überleben. Ich kann mir nicht viel leisten, im Grunde bin ich arm, ich habe kein Auto, ich kann es mir nicht leisten, den öffentlichen Vekehr zu bezahlen, usw.
Aber ich will hier nicht von meinen Problemen ausgehen, von den Problemen, die wir im Grunde fast alle haben, ich will euch lieber von meinen Verlangen erzählen. Denn, wenn wir bloss von den materiellen Grundlagen unserer Existenz ausgehen, können wir uns im Grunde nur vorstellen, wie es möglich wäre, unter den gegenwärtigen Bedingungen besser zu leben (mehr Geld, mehr oder weniger Arbeit, Zugang zu mehr Dingen – Waren, Bildung, Transport…), und nicht nach einem komplett anderen Leben streben.
Unsere ökonomische und soziale Bedingung, wenn sie auch gewiss nicht zu ignorieren ist, führt uns oft dazu, uns in Kategorien einschliessen zu lassen. Man spricht von Arbeitern, von Klasseninteressen und oft spricht man von Bedürfnissen, von Forderungen, aber nie von Verlangen, nie von dem, was wir, als Individuen, wollen.
Durch das Absehen von den Verlangen und individuellen Bestrebungen der Menschen, die diese Kategorien zusammensetzen, wird es einfach, in das typisch politische Spiel der Repräsentation einzusteigen. Jemand kann sich Repräsentant der Interessen meiner Kategorie nennen (mehr oder weniger revolutionäre Parteien, Gewerkschaften), das aber, was von niemandem ausser von uns selbst repräsentiert werden kann, sind unsere Verlangen.
Ich persönlich will niemanden ausser mich selbst repräsentieren, so wie ich nicht will, dass mich irgendjemand repräsentiert, schlicht, weil mich niemand als Individuum repräsentieren kann, weil niemand meine Verlangen und meine Bestrebungen repräsentieren kann. Niemand kann mich repräsentieren, aber das will nicht heissen, dass ich nicht meine Bestrebungen, Ziele und Methoden mit jemandem teilen kann.

Diese Gesellschaft, die auf der Ausbeutung und auf dem Autoritätsprinzip basiert, ist für mich unerträglich. Ich will in einer Welt leben, in der diese letzteren nicht existieren, in der die Notwendigkeit nicht existiert, sich zu verkaufen, um zu überleben, in der die Entscheidungen über unsere Leben die unsrigen sind, und somit nicht die von einem Staat, von seinen Bürokraten, von einer Gemeinschaft mit ihren Regeln oder von anderen Personen. Schliesslich eine Welt, in der man entscheiden kann, frei mit anderen in Beziehung zu treten, ohne irgendwelche Regeln (ausser jenen, die von uns selbst und von den anderen Individuen, mit denen wir in Beziehung treten, gewählt wurden), ohne irgendwelche Zwänge oder moralischen Schranken.
Für dieses Ziel bin ich gewillt, von heute an zu kämpfen, mit allen Mitteln, die ich für angebracht halte, und mit jedem anderen, der meine Ziele und meine Methoden des Kampfes teilt. Ich bin aber nicht bereit, für eine Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen (wie wichtig sie auch sein mag), also für eine Lohnerhöhung, für kürzere Arbeitszeiten, für einen sozialeren Staat, usw. zu kämpfen.
Dies nicht, weil ich das Bedürfnis von jenen nicht nachvollziehen kann, die das tun, und weil ich es nicht für legitim halte (sollte es Verbesserungen geben, werde ich sie gewiss nicht zurückweisen!), sondern, weil das nichts an der Tatsache ändern würde, trotzdem ausgebeutet zu werden, vielleicht unter besseren Bedingungen, aber trotzdem noch immer ausgebeutet. Es würde sich noch immer darum handeln, einen Boss zu haben (wie „gut“ und verständnisvoll er auch sein mag), ein Leben zu haben, das von einem Staat und seinen Gesetzen, und von der ökonomischen Notwendigkeit, zum Profit von anderen arbeiten zu müssen, reguliert wird.

Meiner Meinung nach ist die Frage nicht, die eigene Bedingung in dieser Gesellschaft zu verbessern, denn schliesslich ist das, was ich will, etwas völlig anderes als eine blosse Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen, also etwas, das gegenwärtig nicht existiert und das nicht existieren kann, solange diese Gesellschaft, mit ihren sozialen Verhältnissen und ihren unterdrückerischen Strukturen, existiert. Es geht also nicht bloss darum, den Kurs der gegenwärtigen Gesellschaft etwas zu „korrigieren“, denn die Ausbeutung und die Negierung der Freiheit liegen in ihrer Grundlage selbst.
Somit wird die Frage einer radikalen Veränderung der Bedingungen und der bestehenden sozialen Verhältnisse zu einer Frage der Zerstörung – zumindest teilweise – von dieser Gesellschaft, und dies ist etwas, das im Gegensatz zur Aufrechterhaltung und Rationalisierung der Ausbeutung durch kleine Veränderungen steht.

All dies mag euch gewiss sonderbar erscheinen, denn die Frage einer radikalen oder, wenn ihr bevorzugt, revolutionären Veränderung der Gesellschaft wurde in der Vergangenheit bloss als eine Veränderung in der Verwaltung der Gesellschaft gedacht – von einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel das Eigentum einer Klasse sind (der bürgerlichen Klasse), hin zu einer Gesellschaft, in der diese Mittel von den Produzierenden selbstverwaltet werden.
Dies ist, meiner Meinung nach, heute nicht mehr möglich. Die Frage ist heutzutage viel komplexer geworden. Es geht nicht mehr einfach darum, die Produktionsmittel selbstzuverwalten, sondern auch darum, zu entscheiden, was wir aufrechterhalten wollen (wenn es etwas aufrechtzuerhalten gibt), und was wir zerstören müssen, um frei leben zu können. Sollen wir die gigantischen Industrieanlagen aufrechterhalten und selbstverwalten? Die Waffenfabriken? Die Atomkraftwerke? Usw.
Sich die Revolution als Selbstverwaltung der heutigen Gesellschaft zu denken, zeigt hier, meiner Ansicht nach, seine Grenzen auf. Grenzen, deren Ursprünge in der Fortschrittsideologie gesucht werden können, die vielen revolutionären Ideologien zugrunde liegt. Diese betrachten  den technologischen Fortschritt als eine Kraft, die vom kapitalistischen Produktionssystems unabhängig ist, und somit a priori als etwas, das für die Menschheit stets positiv ist, während hingegen die technologische Entwicklung, fern davon, etwas vom ganzen Rest der Gesellschaft unabhängiges und isoliertes zu sein, schon immer sehr eng mit der Entwicklung dieser letzteren verbunden war.

Dies sind einige Gründe, die mich dazu antreiben, gegen diese Gesellschaft zu revoltieren, Gründe, weshalb ich ein paar „kosmetische“ Veränderungen an ihr als unzureichend betrachte und ich ihre Zerstörung will, um einen Raum zu kreieren, in dem sich etwas anderes wirklich entwickeln kann.
Darum kann ich, auch wenn ich mit den Kämpfen der Arbeiter, sowie mit anderen Kämpfen, wie zum Beispiel denjenigen der Frauen und der Migranten, sympathisieren kann oder nicht, nicht sagen, dass ich auf ihrer Seite stehe, falls sich ihre Forderungen auf die Aufrechterhaltung und auf die Verbesserung das gegenwärtigen Stands der Dinge beschränken.
Darum werde ich immer auf niemandes Seite stehen, aber mir sicher, nicht alleine zu sein.


 

Ein fernes Land

Lassen wir unsere Gedanken ins Absurde schweifen. Tausende streikende Arbeiter entscheiden sich, die Produktion einer Fabrik lahmzulegen. Sie arbeiten bereits seit Jahren dort und produzieren Schadstoffe, verschmutzen die Luft, das Wasser und das umliegende Land. Auch ihnen ergeht es nicht gut, hin und wieder stirbt jemand bei der Arbeit aus Mangel an angemessenen Mitteln und Schutzmassnahmen. Seit einigen Jahren erkranken hunderte von ihren Familienangehörigen an Krebs, und die Krankheit schaut niemandem ins Gesicht, sie macht keine Altersunterschiede. Kinder, Alte, Jugendliche. Auch viele Arbeiter sind erkrankt und haben nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben verloren. Die Liste könnte noch lange weiter gehen. Zerstörte Tierhaltungen aufgrund des ausgeströmten Dioxins, das alles vergiftet hat; verwüsteter Ackerbau, verschmutzte Gewässer, verschmutztes Grundwasser. Am Rand einer Strasse ausserhalb des Stadtrands steht ein Wegweiser, der in Richtung Fabrik zeigt. Mit etwas Abstand steht ein anderer, der zu jenem Quartier der Stadt zeigt, das ihr am nächsten liegt. Darunter befindet sich ein weiterer, der zum Friedhof zeigt. Seit etlichen Jahren begehen dutzende Arbeiter diesen Weg, jeden Tag, doch eines Tages geschieht etwas. Einer der Arbeiter von dieser Fabrik kommt an der Kreuzung vorbei, auf der sich diese Wegweiser befinden. Er ist hier schon oft vorbeigegangen, rennend, weil die Sirene des Schichtbeginns ertönte und er sich beeilen musste.
Und auch am Ende des Arbeitstages legte er diese Strasse immer mit grosser Geschwindigkeit zurück, mit grosser Lust, die Hölle, die er zwischen Hochöfen, unerträglichen Temperaturen und giftigen Dämpfen durchlebte, wenigstens für einige Stunden hinter dem Rücken zurückzulassen. Mit jedem Tag beschwerte sich seine Seele wegen dieser verfluchten Arbeit noch mehr, aber er dachte, dass er ohne sie nicht auskommen kann. Er muss den Kredit bezahlen, die Kinder ernähren, und ausserdem steht Weihnachten vor der Tür und die Einkaufszentren der Gegend sind bereits voll mit vielen Waren, die bereit stehen, gekauft zu werden. Am Sonntag gehen er und seine Familie oft dorthin und alle wirken zufrieden. Eines Tages aber, während er an der Kasse steht, schaut er um sich und beobachtet all die Leute in der Schlange mit ihren Einkaufswägen überfüllt mit Waren. Jedes Mal, wenn er den Einkauf machen ging, wechselte er kein Wort mit niemandem. Ihm kommt seine Arbeit in der Fabrik in den Sinn und wie sehr sie ihm die Lebensfreude entreisst. Er denkt an seine toten Arbeitskollegen, an seine verstorbenen Familienangehörigen zurück. Während er an all das denkt, bemerkt er, dass eine junge Frau die Schlange übersprungen hat und das Einkaufszentrum verlässt, während die Anti-Diebstahl-Apparate wie wild piepen. Aber sie ist bereis fern. Er spürt, wie er aufatmet. Auf einmal fühlt er sich nicht mehr beschwert, sondern wütend. Er denkt, dass die Besitzer der Fabrik, in der er arbeitet, Mörder sind, dass sie mit der Aktivität dieses Kolosses hunderte Personen ermorden und dass sie das ganze umliegende Gebiet zerstören, das nunmehr unbrauchbar ist. Am Tag darauf begibt er sich zur Arbeit, er kommt wie jedes Mal an der Kreuzung mit den beiden Wegweisern vorbei, die zur Fabrik, zu seinem Quartier und zum Friedhof zeigen. Doch diesmal hält er plötzlich inne und bleibt daneben stehen. Er schafft es nicht mehr, sich zu bewegen, er bleibt für den ganzen Tag dort. Später ruft er all seine Arbeitskollegen, jene, die er besser kennt, denn in seiner Fabrik arbeiten mehr als zehntausend Leute, und er lädt sie ein, sich zu dieser Kreuzung zu begeben. Schaut, sagt er, habt ihr gesehen, was da geschrieben steht: FRIEDHOF. Jetzt reicht‘s, wir können nicht weiter sterben, unsere Familienangehörigen können nicht weiter sterben, jene, die in dieser Stadt leben, können nicht weiter sterben. Niemand antwortet. Es bricht Stille herein, aber es ist der Gipfel der Wut, den jeder von ihnen in sich spürt.
Am Tag darauf begeben sich alle in die Fabrik, aber um die Fabrik stillzulegen. Die Hochöfen erlöschen, die Dämpfe verschwinden allmählich. Am nächsten Tag begeben sich die Bosse an Ort und Stelle, sie sind voller Groll, haben das Blut in den Augen, die Profite fallen zusehends, die Aufträge werden nicht ausgeführt. Die internationalen Anleger verlassen den Industriekoloss  und gehen woanders hin. Aber die Arbeiter sind unerschütterlich, sie setzen ihre Abbrucharbeit fort. Auch die Drohung mit der Entlassung bringt sie nicht dazu, abzulassen, und im Übrigen ist ihre Absicht, dass diese Fabrik kein Tod mehr produziert, weshalb sie eine Entlassung gewiss nicht besorgen kann. Am Tag darauf begeben sich dann auch alle Gewerkschaften geschlossen in die Fabrik und fordern die Arbeiter auf, die Produktion wieder aufzunehmen, sich zu besinnen, und sie sagen, dass das, was sie da tun, eine Sabotage ist, aber auch ihre Intervention hat keinen Erfolg. Schliesslich probiert es die Polizei in Anti-Riot-Ausrüstung, indem sie versucht, überzeugendere Waffen einzusetzen. Nichts. Die Arbeiter haben nicht vor, locker zu lassen. Sie sind mehrere tausend und nun kann sie nur die Armee noch aufhalten, auf die Gefahr hin, ein Blutbad anzurichten. In dem Land sind alle auf die Strassen gegangen, um Tage für Tage aufeinanderfolgend zu demonstrieren. Es ist unmöglich, sie zur Vernunft zu bringen. Alle Repräsentanten der Institutionen lancieren besorgte Aufrufe, damit der Gewalt ein Ende geboten wird, denn dies ist ein Angriff gegen die demokratische Ordnung, aber es nützt nichts. Jedem, der sich mit der Absicht nähert, den Kurs ihrer Entscheidung zu ändern, wird im Bösen und im Guten gedroht, sich wieder davon zu machen. Dieses Land ist dabei, zu einer Insel zu werden, seine Bewohner haben einen Weg eingeschlagen, der ohne Rückkehr ist, und sie haben neue Möglichkeiten des Zusammenlebens, des Lebens, der Nahrungsversorgung, der Arbeit, der Bildung, der Unterhaltung, der Organisierung erfinden müssen. Bereits ein Weg ohne Rückkehr. Nun, schliesslich liessen wir unsere Gedanken nur ins Absurde schweifen, vielleicht…

[Übersetzt aus Tairsìa, anarchistisches Blatt, Nr. 4, März 2013, Lecce, Italien]


[Der obenstehende Text findet sich HIER auf Italienisch.]


 

Über die Frage der Organisation

Wie oft haben wir es schon gehört: „Aber von welcher Organisation seid ihr denn?“. Vielen scheint es gegen ihr Weltverständnis zu gehen, dass es Individuen gibt, die nicht im Namen irgendeiner Organisation, sondern einzig und allein in ihrem eigenen Namen agieren. Nun, ich bin Anarchist, und natürlich organisiere ich mich, um für meine Ideen zu kämpfen, gemeinsame Projekte (wie z.B. diese Zeitung) zu realisieren und zu versuchen, die Realität zu verändern. Dazu brauche ich aber keine „Organisation“ – in dem Sinne, wie ich sie hier verstehe, das heisst, als eine repräsentative Struktur mit Name, Mitgliederliste, Statuten und Programm. Und ich möchte noch mehr sagen: Es ist nicht nur, dass ich keine solche „Organisation“ brauche, ich halte sie auch für schädlich für das, wofür ich kämpfe. Ich halte sie für schädlich, wenn das Ziel ist, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken und sie zur Selbstorganisation zu ermutigen.
Wieso ich das so sehe, und auf welche Weise ich die Organisationstatsache verstehe, will ich in diesem Artikel zu erklären versuchen.

Delegation und Repräsentation 

Wir leben heute in einer Gesellschaft, deren ganzes Organisationsmodell –  also die Demokratie  –
auf einem System von Delegation und Repräsentation basiert. Als Mitglieder dieser Gesellschaft delegieren wir permanent den Grossteil der Entscheidungen, die im Grunde unser eigenes Leben und unsere eigene Umwelt betreffen, an irgendwelche „Spezialisten“, in erster Linie an die Politiker aller Art, die behaupten, unseren Willen zu repräsentieren. Mit der Politik, den Abstimmungen und dem Referendum will uns der Staat das Gefühl geben, teilnehmen und mitbestimmen zu können – unter der Voraussetzung, ihn selbst und seine Spielregeln zu akzeptieren. So beschränkt sich die sogenannte „Souveränität des Volkes“ darauf, von Zeit zu Zeit zwischen zwei falschen Alternativen abzustimmen, den einen Esel mit einem anderen auszutauschen, vielleicht eine Beschwerde oder eine Petition einzureichen, oder äusserstenfalls mit Protesten auf die Politiker Druck auszuüben“. So oder so, die letztendliche Entscheidung delegieren wir immer an andere, an Spezialisten, Politiker und Autoritäten, die die Aufgabe haben, unsere Leben zu verwalten und „sich unseren Problemen anzunehmen“ – natürlich stets im Rahmen der bestehenden Ordnung, die ihre eigenen Privilegien und ihre eigene Machtposition bewahrt und beschützt.
Die Tatsache, zu delegieren und uns repräsentieren zu lassen, ist also etwas, das wir von klein auf lernten und das tief in uns sitzt. Von klein auf sagt man uns, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann, und dass, wenn wir ein Problem haben, wenn uns etwas nicht passt, wir eben Abstimmen oder selber in die Politik gehen müssen.
Nun, das, was mir nicht passt, das, was mein Problem ist, ist aber die bestehende Ordnung selbst, die Existenz des Staates selbst, weil dieser für mich, wie für die meisten, mit seinen Gesetzen, Ordnungshütern und Gefängnissen, immer die Aufrechterhaltung meiner Unterdrückung und Ausbeutung zum Profit der Reichen und Mächtigen bedeuten wird. Es ist also offensichtlich, dass es sinnlos wäre, dieses „Problem“ an irgendwelche Politiker zu delegieren.
Als Anarchist kämpfe ich für eine Welt, in der ein jeder tatsächlich Souverän über das eigene Leben ist, in der niemand über den Köpfen und über den Willen von anderen entscheidet, in der es keinen Staat und keine Politik gibt, die über unsere Leben walten, kurzum: in der wir unsere Leben selbstverwalten. Ein solches selbstverwaltetes Leben will ich nicht nur in einer mehr oder weniger fernen Zukunft, für die ich kämpfe, sondern Hier und Jetzt. Das bedeutet nicht nur, dass ich mich weigere, mich an dem politischen Zirkus der Parteien und Abstimmungen zu beteiligen, sondern auch und vor allem, dass ich mich selber organisieren will, um selbstständig und direkt in die Realität zu intervenieren und das zu bekämpfen, was mir gegen meinen Willen aufgezwungen wird.
Es drängt sich also die Frage auf, wie ich mich für diesen Kampf organisieren will.

Selstorganisation

Oft wird diese Frage, auch unter Revolutionären und Anarchisten, mit einem Organisationsmodell beantwortet, das im Grunde dieselben Mechanismen reproduziert, nach denen auch diese Gesellschaft funktioniert, die man behauptet, zu bekämpfen. Man gründet eine repräsentative, mehr oder weniger parteiähnliche Organisation, die Mitglieder sammelt und quantitativ anzuwachsen versucht, um – wenn auch ausserparlamentarisch – eine gewisse politische Macht (oder Gegenmacht, wenn ihr bevorzugt…) zu erlangen; eine Organisation mit Name und Aushängeschild, mit einheitlichem Programm und Statuten, aufgeteilt in Arbeitsgruppen und mehr oder weniger verhüllte Hierarchien. Meiner Meinung nach reproduziert eine solche Organisation, anstatt alle zu ermutigen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich selbst zu organisieren, eben diese Gewohnheit der Delegation, die tief in uns sitzt und von der es nicht einfach ist, loszukommen. Anstatt diese Gewohnheit zu bekämpfen, verleitet sie ihre Mitglieder nur erneut dazu, sich genau wie in der Gesellschaft, bewusst oder unbewusst, von einem übergeordneten Organ repräsentieren zu lassen, auf ihre eigene Individualität zu verzichten und sich den Mehrheitsbeschlüssen zu fügen; dazu, die eigene Verantwortung an die Organisation abzuschieben und die eigenen Entscheidungen an «jene, die es besser können», an irgendwelche Spezialisten und kleine und grosse Bewegungsführer zu delegieren. Ihre Mitglieder sehen sich schliesslich, genau wie in der Gesellschaft, verleitet, eine blosse Rolle, eine blosse Funktion zu übernehmen, anstatt das ganze Potenzial ihrer Individualität zu entfalten und ihren Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist, neben anderen Gründen, weshalb ich eine solche formelle Organisation für schädlich halte und weshalb ich es bevorzuge, mich informell zu organisieren. Aber was soll das heissen?
Es sei zunächst gesagt, dass auch ich die Tatsache der Organisation als eine Notwendigkeit anerkenne, sowohl für die Kämpfe von heute wie für die freie Gesellschaft von morgen. Und es wäre absurd, diese Tatsache zu negieren, insofern jeder noch so kleine und kurzlebige Zusammenschluss von Individuen für ein spezifisches Ziel bereits eine Form von Organisation ist. Als Anarchist suche ich schlicht nach Wegen, sich zu organisieren, ohne die Mechanismen der Delegation und der Repräsentation zu reproduzieren, die stets der fruchtbarste Boden für die Herausbildung von Autoritäten sind – auch unter Revolutionären, und ja, auch unter Anarchisten.
Meiner Meinung nach besteht das beste Mittel, um diese Angewohnheit zu bekämpfen, darin, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken, und somit den Drang danach, «selber zu machen», also nach Selbstorganisation, nach individueller Initiative und direkter Aktion zu fördern. Diese Empfindung und dieser Drang können beispielsweise durch Erfahrungen von Revolte gegen Einschränkungen und Aufzwingungen, durch Experimentieren mit den eigenen Fähigkeiten in eigenen Projekten des Kampfes, oder durch Vertiefung der eigenen Ideen anwachsen.
Der Ausgangspunkt für jede Organisation, die nicht eine blosse Repräsentation sein will, ist also das Individuum, das den Willen hat, sich zu entfalten, zu kämpfen, und in erster Person zu überlegen und zu agieren. Die Organisation, wie ich sie verstehe, sollte also nicht bezwecken, ihre Mitglieder zu vereinheitlichen und zu repräsentieren, sondern ist nichts anderes als ein Zusammenwirken von verschiedenen individuellen Initiativen, ein Zusammenschluss von Individuen, um gemeinsame Projekte zu realisieren, bzw. ein spezifisches Ziel zu erreichen, das man teilt und über die dafür einzusetzenden Mittel und Methoden man sich einig ist. Die dazu geschaffene selbstverwalterische Struktur hat für mich, als Anarchist, da ich nicht bezwecke, bzw. verhindern will, irgendeine „politische Macht“ aufzubauen, keinen Grund, über das spezifische Ziel oder Projekt hinaus fortzubestehen und anzuwachsen. Wurde der Zweck der Organisation erreicht oder ist sie dafür nicht mehr von Nutzen, löst sie sich wieder auf, während ich mich für andere Ziele und andere Projekte wieder neu und anders zusammenschliesse. Es geht also nicht um eine permanente, quantitative, formelle Struktur, die auf einmal festgelegten Grundsätzen basiert, sondern um einen temporären, beschränkten, informellen Zusammenschluss, der sich im ständigen Wandel befindet.
Die Tatsache der Organisation kann also ein Hilfsmittel sein, um, gemeinsam mit anderen, den eigenen Kampf, die eigene Befreiung und die eigenen Ideen zu verwirklichen, während sie nicht darauf abzielen sollte, die Initiativen in sich zu zentralisieren, sondern darauf, wo immer möglich, die Praxis der Selbstorganisation zu fördern und sozial zu verbreiten – jene Selbstorganisation, deren Generalisierung schliesslich die Grundlage einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Autoritäten ist.

Direkte Aktion

Wenn der Grund, wieso ich mich selbstorganisieren will, die Verweigerung der Praxis der Delegation ist, so ist mein Ziel die direkte Aktion – also die direkte Intervention in die Prozesse um uns herum, die uns vom Staat aufgezwungen werden und uns zwingen wollen, unter seiner Herrschaft zu leben. Die direkte Aktion ist sowohl ein Mittel, tatsächlich und effektiv etwas anzupacken und zu verändern, sowie ein Zeichen an andere des Willens, sich das eigene Leben wieder anzueignen.
Nehmen wir ein lokales Beispiel: der Bau des PJZ beim alten Güterbahnhof. Viele Leute wollen nicht, dass dieser riesige Polizei- und Justizpalast gebaut wird, weil sie sehrwohl wissen, dass dies noch mehr Bullen und Kontrollen im Quartier, eine weitere „Säuberung“ der Strassen, und somit eine „Aufwertung“, eine Vertreibung der ärmeren Anwohner bedeuten wird. Aber das PJZ wurde nunmal gesetzlich abgesegnet. Es ist offensichtlich, dass es sinnlos wäre, noch auf irgendwelche Politiker zu setzen, wenn wir es verhindern wollen. Wenn wir wirklich verhindern wollen, dass dieser riesige Kontroll- und Gefängniskomplex bald über unseren Leben thront und wacht, müssen wir zu anderen Mitteln greifen. Wir müssen selber Hand anlegen. Wir müssen uns selber organisieren – uns zur direkten Aktion gegen das PJZ selber organisieren. Dazu brauchen wir nicht irgendeine Organisation, die mit Protesten bei den Politikern „Druck ausübt“, welche so oder so nichts ändern werden. So würden wir nur wieder die Hoffnung in andere setzen, von den Politikern und Autoritäten fordern, die Entscheidung in die Hände von jenen delegiern, die sich anmassen, unsere Leben zu regieren. Wenn wir unsere Leben aber selbst in die Hand nehmen wollen, dann sind wir es, die entscheiden, dass dieses Projekt nicht gebaut wird, und dann müssen wir auch eigenhändig dafür sorgen, dass dem so ist – mit den Mitteln, die dafür nötig sind. Dafür reichen kleine, selbstständige und namenlose Grüppchen von Leuten, die sich zusammenschliessen, weil sie sich kennen und den Willen teilen, auf auf direkte Weise zu kämpfen. Grüppchen, die verstreut gegen dieses Projekt vorgehen, die nicht beabsichtigen, zu verhandeln, sondern sich in permanenter Konflikthaltung befinden, kleine verstreute Angriffe und Sabotagen realisieren, und mit ihren Aktionen die Unterstützer dieses Projekts entlarven und zur Verantwortung ziehen. Und durch eine permanente Feindlichkeit gegen dieses Projekt und all seine Kollaborateure, durch eine soziale Verbreitung der Selbstorganisation in diesem Kampf, unabhängig von allen Parteien und politischen Organisationen, können wir vielleicht eine Stimmung kreieren, die es schliesslich ermöglicht, gemeinsam gegen diese Struktur in Aufstand zu treten, sie zu stürmen und… dann ja, dann liegt die Entscheidung, das PJZ zu verhindern, in unseren Händen.

Nun, man erzählt uns von klein auf, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann. Ich will das Gegenteil behaupten: Nichts und niemand ausser das Individuum kann entscheiden, etwas zu verändern, und solange das Individuum, ob organisiert oder alleine, nicht im Hier und Jetzt entscheidet, zu handeln, wird alles immer beim Alten bleiben…


 

Zitate

« Sozialistische, republikanische und radikale Abgeordnete, eifersüchtig ihre Autorität und ihren Einfluss hütend, angetrieben von der grossen Angst, das Volk könnte beginnen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, liessen die Vogelscheuche der Repression aufblizen und ergriffen Besitz von der Bewegung. Die Agitation für die 8 Arbeitsstunden wurde zu einem parlamentarischen Geschwätz und der 1. Mai zerfiel in lächerliche Petitionen an die bestehenden Mächte oder in prozessionshafte Umzüge mit Fahnen unter der Vormundschaft der herrschanden Klassen… Arbeiter! Wer euch erzählt, zu warten und zu gedulden, kennt eure Nöte nicht und verspottet euer Elend und euer Leiden. Wer euch davon erzählt, die Verteidigung eurer Rechte und die Erlangung eures Wohlstands einem Abgeordneten, einem Senator oder einem Stadtrat anzuvertrauen; derjenige, der euch von einem Parlament oder von einem Monarchen Reformen erhoffen lässt, der ist euer schlimmster Feind.»
aus „1. Maggio“, einmalige anarchistische Zeitung,
1. Mai, Lugano, 1893

« Das souveräne Volk wählt seine Repräsentanten, aber seine Repräsentanten müssen vor allem brave Bürger sein, der bestehenden Ordnung ergeben, also das Recht des Privateigentums, die kapitalistischen Monopole des sozialen Reichtums und die Autorität des Staates respektierend, das heisst, sie müssen nicht den Willen, die Bestrebungen oder die Interessen von jenen repräsentieren, die sie wählen, sondern die Herrschaft, die Autorität und die Privilegien, die die bestehende Ordnung weiht und beschützt.»
Max Sartin, 1946

« Die direkte Aktion […] ist der an alle gerichtete Aufruf, sich am gemeinsamen Werk zu beteiligen: ein jeder ist eingeladen, nicht mehr eine Nichtigkeit zu sein, – nicht mehr von oben oder von der Ewigkeit sein Heil zu erwarten: ein jeder ist dazu angetrieben, sich ans Werk zu machen und nicht mehr passiv die sozialen Fatalitäten zu erdulden.»
Emile Pouget, 1910

 

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