Nummer 14 – 17. April 2014

aufruhr 12


AUFRUHR
Nummer 12, Jahr II

Anarchistisches Blatt
Erscheint jeden Monat
Zürich, 27. November 2013


Inhalt:

Ein Hoch auf die Meinung
Bullingerplatz polizeilich belagert
Für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes (1 Teil)
Publikationen
Unruhenachrichten
Zitate
Veranstaltungen


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Ein Hoch auf die Meinung

Die Meinung ist die meist verbreitete Ware. Alle besitzen sie und alle gebrauchen sie. Die Produktion von Meinungen interessiert eine breite Schicht der gesamten wirtschaftlichen Produktion, ihr Konsum nimmt einen Grossteil der Zeit der einzelnen Personen ein. Die hauptsächliche Qualität der Meinung ist ihre Klarheit.
Lasst uns gleich sagen, dass es keine unklaren Meinungen gibt. Man ist entweder dafür oder man ist dagegen. Die Nuancierungen und die Ambivalenzen, die Widersprüche und die schmerzhaften Eingeständnisse von Unsicherheit sind ihr fremd. Daher die grosse Stärke, welche die Meinung demjenigen verschafft, der sie gebraucht, der sie für seine Entscheidungen konsumiert, der sie den Entscheidungen von anderen auferlegt.
In einer Welt, die immer schneller auf die Binäre des positiv/negativ, des roten Knopfs und des schwarzen Knopfs zusteuert, ist die Reduzierung auf diese vereinfachte Logik ein wichtiger Entwicklungsfaktor, vielleicht des zivilisierten Zusammenlebens selbst. Was würde aus unserer Zukunft werden, wenn wir uns weiterhin auf die ungelösten Grausamkeiten der Ambivalenzen stützten? Wie könnten wir gebraucht werden, wie könnten wir produzieren?
Die Klarheit tritt genau dann hervor, wenn sich die wirkliche Möglichkeit zur Wahl reduziert. Nur wer klare Ideen hat, weiss genau, was zu tun ist, aber die Ideen sind nie klar, und so sieht man jene hervortreten, die sie uns klären, die einfache und verständliche Instrumente liefern: nicht Diskurse, sondern Frage- und Antwortspiele, nicht Vertiefungen, sondern binäre Alternativen. Der Tag oder die Nacht, keine Dämmerungen oder Morgenröten.
Auf diese Weise fragen sie uns danach, uns für oder gegen etwas zu erklären. Sie führen uns nicht die Aspekte des Problems vor Augen, sondern nur eine grob vereinfachte Konstruktion. Es ist eine einfache Sache, sich für das Ja oder für das Nein zu erklären, aber von der Einfachkeit, die die Komplexität vertuscht und verschwinden lässt, nicht die sie versteht und sie erklärt. Keine Komplexität kann, korrekt verstanden, tatsächlich erklärt werden, ohne auf andere Komplexitäten zu verweisen. Es gibt nicht Lösungen von Problemen, sondern Gelegenheiten zur Reflexion, zur Erkenntnis, zur Begegnung. Freuden des Intellekts und des Herzens, die der schlichte binäre Vorschlag austilgt und durch die Nützlichkeit des richtigen Entscheidens ersetzt.
Und weil niemand so dumm ist, zu glauben, dass sich die Welt auf zwei logische Stelzen stützt, die positive und die negative, da es ja doch einen spezifischen Ort der Vertiefungen geben muss, einen Ort, an dem die Ideen wieder die Oberhand nehmen und die Kenntnis das verlorene Terrain zurückgewinnt, so sieht man, wie das Verlangen aufkommt, jegliche Vertiefung an andere zu delegieren, an jene, die, da sie uns einfache Lösungen vorschlagen, die Ausarbeitung der Komplexität als bereits geschehene Tatsache zu wahren scheinen, und die sich, folglich, zu Bezeugern und Hütern der Wissenschaft ernennen.
So schliesst sich der Kreis. Die Vereinfacher selbst präsentieren sich als Garanten der Fundiertheit der Meinung, worum gefragt wird, ihres korrekten Auftretens in binärer Form. Sie scheinen sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die Meinung, hat sie sich einmal abgesetzt, jegliche Fähigkeit zerstört, das verwickelte Gefüge, das ihr zu Grunde liegt, die komplexe Entwicklung der Probleme der Kenntnis, die hektische Interaktion der Symbole und der Bedeutungen, der Bezüge und der Intuitionen zu verstehen.
Der Manipulator der Klarheit zerstört das Gefüge der Differenzen, er verwässert es im binären Universum des Codes, wo die Realität nur in zwei Lösungen möglich scheint: das angestellte Lämpchen und das ausgestellte Lämpchen. Das Modell fasst die Realität zusammen, tilgt die Nuancierungen von dieser letzteren und schlägt sie in vorgefertigten statistischen Formeln vor, zum Konsum bereit. Es gibt nicht mehr Lebensprojekte, sondern blosse Symbole, die die Verlangen ersetzen und die Träume [ital.: sogni] duplizieren und in Bedürfnisse [bi-sogni] verwandeln.
Das quantitative Anwachsen der Informationen, worüber wir verfügen, erlaubt es nicht, den Rahmen der Meinungen zu verlassen. Genauso wie eine grössere Menge an Waren in einem Laden, mit allen möglichen und unnützen Variationen desselben Produkts, nicht Reichtum oder Fülle bedeutet, sondern einzig Warenverschwendung, so lässt die Vermehrung von Informationen die Meinung nicht qualitativ wachsen, das heisst, erzeugt sie nicht eine wirkliche Fähigkeit, zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Guten und dem Schlechten, dem Schönen und dem Hässlichen zu wählen, ausser jeden von diesen Aspekten auf die erstarrte Repräsentation eines vorherrschenden Modells reduzierend.
In der Realität gibt es nicht auf der einen Seite das Gute und auf der anderen Seite das Schlechte, sondern eine ganze Nuancierung von Bedingungen, von Fällen, von Situationen, von Theorien und von Praktiken, die nur eine Verständnisfähigkeit erfassen kann, also eine Fähigkeit, den Intellekt zu gebrauchen, mit den gebührenden, vom Wahrnehmungsvermögen und von der Intuition gelieferten korrektiven Präsenzen. Kultur ist nicht eine Anhäufung von Informationen, sondern ein lebendiges und oft widersprüchliches System, auf Basis von dem wir die Welt und uns selbst kennenlernen, ein Prozess, der manchmal schmerzhaft ist, und fast nie zufriedenstellend, mit dem wir jene Beziehungen realisieren, die unser Leben und auch unsere Fähigkeit, zu leben, darstellen.
Wenn wir all diese Nuancierungen austilgen, finden wir uns mit einer statistischen Kurve in den Händen wieder, ein illusorischer Hergang, produziert von einem mathematischen Modell, nicht eine fraktionierte und überwältigende Realität.
Die Meinung verschafft uns also, auf der einen Seite, Sicherheit, aber auf der anderen verarmt sie uns und beraubt sie uns der Fähigkeit, zu kämpfen, indem sie uns letzten Endes davon überzeugt, dass die Welt einfacher ist, als sie ist. Das alles liegt im Interesse von jenen, die uns beherrschen. Eine Masse von Untertanen, zufriedengestellt und überzeugt davon, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben: dies ist es, was sie brauchen, um die künftigen Herrschaftsprojekte zu realisieren.

amb, „Canenero“


 

Bullingerplatz polizeilich belagert

 

[Am Abend des 27. März fuhren 12 Polizeivans auf dem Bullingerplatz auf, einzelne Riotcops postierten sich in den Seitenstrassen. Das folgende Flugblatt wurde am Tag darauf im Quartier verteilt, auf dem Platz wurde ein Banner gehängt: „Kein Bock auf Bullenschweine! PJZ Niemals!“]

Gestern, am Donnerstag dem 27. März 2014, hat sich auf dem Bullingerplatz eine Gruppe von Personen getroffen, um Flugblätter zu verteilen und über den Kampf gegen das PJZ (Polizei- und Justizzentrum) zu diskutieren, welches sich in diesem Quartier in der Bauphase befindet. Die Polizei, aufgrund der Weigerung dieser Personen, um eine Autorisierung zu fragen und ihre Identität anzugeben, ist mit einem Grossaufgebot auf dem Platz aufgefahren, um schliesslich verschiedene Personen zu verhaften.
Um die Sache klar zu stellen: Wir wollen uns hier nicht über die Behandlung beklagen, die diese Personen von Seiten der Autorität erfahren haben, schliesslich, trotz der demokratischen Lügen über die angebliche Vereinbarkeit zwischen Freiheit und Autorität, sind wir uns darüber bewusst, dass es zwischen der Autorität, die von der Polizei verteidigt wird, und ihren Feinden einen Abgrund gibt, einen Abgrund, den kein Dialog, kein Diskurs oder Kompromiss auffüllen kann. Wir haben gewählt, auf welcher Seite wir stehen, und wir treten den möglichen Konsequenzen entgegen. Genauso, wie wir uns darüber bewusst sind, dass die Freiheit nur im Kampf gegen und durch die Zerstörung der Autorität und ihrer Projekte möglich ist. Das PJZ ist nur eines von diesen, doch in seiner Bedeutung, unserer Meinung nach, das Sichtbarste und Deutlichste, da es einen beträchtlichen Teil des repressiven Apparates des Staates (Polizei, Gerichte, Gefängnis,…) in einem ärmeren und für sie unbequemen Quartier konzentrieren wird, in einem Quartier, das die städtischen Autoritäten aufwerten wollen, um es vermögenderen Personenkategorien zugänglicher zu machen. Diese Aufwertung wird auf Kosten von jenem Teil der Bewohner des Quartiers geschehen, der es sich nicht wird erlauben können, höhere Mieten zu bezahlen, oder der sich, aus verschiedenen Gründen, nicht einer Erhöhung der Kontrollen auf den Strassen von Seiten der Polizei aussetzen will.


 

Für eine Wiederaufgleisung des
revolutionären Kampfes

(1 Teil)

Die Welt hat sich verändert. Eine banale Aussage, und doch nicht unnütz, gelegentlich in Erinnerung zu rufen – gerade heute, da die Allgegenwart und die Unmittelbarkeit der modernen Kommunikationstechnologien dabei sind, ein Gefühl der ewigen Gegenwart einzurichten. Aber die Gegenwart, als das, wie sie uns umgibt, ist die Konsequenz aus ihrer Vergangenheit, und wir können die Bedingungen von heute nicht verstehen, ohne auch die Vergangenheit zu verstehen, die sie formte. Jede revolutionäre Anwandlung kommt nicht umhin, sich dieser analytischen Anstrengung anzunehmen. Wir können die Realität nicht verändern, ohne zu versuchen, sie zu verstehen, und genauso können wir sie nicht verstehen, ohne zu versuchen, sie zu verändern. In diesem Wechselspiel gilt es heute, Mittel und Wege für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes zurückzufinden, Mittel und Wege, die den umfassenden Veränderungen angemessen sind, die auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene erfolgt sind. In diesem Sinne wollen wir etwas in die Geschichte hinabsteigen, um, in groben Zügen, einigen Entwicklungslinien zu folgen, die den sozialen Konflikt zwischen den Bedingungen von Herrschaft und Ausbeutung und den menschlichen Bestreben nach Freiheit und Solidarität kennzeichneten, bis hin zu den fortgeschrittenen Demokratien und zur post-industriellen Ausbeutung, wie wir sie heute kennen.

Der soziale Konflikt

Es interessiert uns hier nicht, den Ursprung des sozialen Konflikts in den menschlichen Gesellschaften zu suchen, der sich zweifellos in der Nacht der Zeiten verliert, ebensowenig, wie den Mythos eines linearen sozialen Fortschritts von den primitiven Stämmen bis zum modernen Staat nachzubeten. Die Geschichte, geformt von den Willen und Entscheidungen aller Individuen, ist eine viel zu komplexe Angelegenheit, um irgendwelchen deterministischen Mechanismen zu folgen. Wir können jedoch wagen, zu bekräftigen, dass es auf dieser Welt, seit es Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt, schon immer auch Individuen gegeben hat, die nach Wegen suchten, sich, alleine oder durch die Vereinigung mit anderen, dagegen zu widersetzen, um jenes höchste Gut zu verteidigen oder zu erobern, welches das Leben schliesslich ausmacht: die Freiheit. Über die Jahrhunderte hinweg, begleitet von Revolten, Aufständen und Revolutionen, haben sich die Systeme zur sozialen Organisation dieser Ausbeutung, die Mittel zu ihrer Verteidigung und Bewahrung, sowie ihre praktischen Formen, fortlaufend verändert und rationalisiert. Der grundlegende soziale Konflikt jedoch, zwischen einer herrschenden Klasse, welche die Autorität und die Mittel besitzt, um ihre Privilegienordnung aufzuzwingen, und der überwiegenden Mehrheit, dem „einfachen Volk“, das darunter leidet und ausgebeutet wird, ist bis heute derselbe geblieben: von der Sklavenhaltung der Antike, über die Feudalherrschaft des Mittelalters, bis zu den grossen Industrieanlagen der Moderne, bis zur aufgestückelten und flexiblen, post-industriellen Arbeitswelt von heute. Mit diesen Veränderungen der Ausbeutungsformen, die nie definitiv, sondern vielmehr tendenziell und ineinander überlaufend waren (heute noch bestehen moderne und antike Formen nebeneinander), haben sich auch die Mittel und Wege verändert, wodurch sich die Leute gegen ihre Ausbeuter organisierten und widersetzten.

Die „Grosse Revolution“

Einen markanten Wendepunkt in der Evolution dieser sozialen Herrschaftssysteme kann mit der Französischen Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Diese „Grosse Revolution“, die innert weniger Jahre jahrhundertealt verwurzelte Institutionen umwälzte, die Ideen und Impulse in die Welt warf, die in zahlreichen Ländern, zeitlich mehr oder weniger verschoben und mit unterschiedlichen Charakteristiken, aber mit ähnlichen Resultaten auf politischer Ebene, zu fundamentalen Umstrukturierungen führten, hat zweifellos das Schicksal der Menschheit verändert. Es war die Initiierung einer grossen Rationalisierung der Macht: das Ende des Absolutismus, der Monarchien, der Feudalherren, und das Aufkommen des Parlamentarismus, der Republiken, der „Bourgeoisie“ als neue herrschende Klasse; das Ende der Willkür des königlichen Hofes und das Aufkommen der konstitutionellen Regierungen, die Auffächerung der staatlichen Kontrolle über die Gesellschaft (Verwaltungen, Ämter, Bürokratien, etc.), die Ausprägung der Funktion des Bürgers, des gehorsamen, teilnehmenden Bürgers, des Kultes des Gesetzes, des Richters, des Beamten, wie wir dies alles heute sehr gut kennen.
Aber, was die Geschichtsschreiber meist nur am Rande anmerken: im Laufe dieser Revolution gab es nicht nur das politische Projekt der bürgerlichen Klasse, die das Fundament der heutigen demokratischen Staaten legte. In ihr gab es auch, und an erster Stelle, als wesentliche und treibende Kraft von jeder Revolution, die Bewegung des einfachen Volkes, das, angetrieben von seinen Nöten und Leiden, für unmittelbare und greifbare Verbesserungen seiner Lage kämpfte. Ohne die zahllosen Aufstände der Bauern und der Proletarier der Städte, die sich weigerten, die Abgaben an die Grundherren zu bezahlen, die die Steuereintreiber mit Prügeln empfingen, die die Schlösser der Feudalisten in Brand steckten, die die Eigentums- und Steuerregister zerstörten, die sich der feudalen Ländereien bemächtigten und sie bestellten, die, kurz gesagt, die Abschaffung der Feudalrechte in der Praxis bereits umsetzten, lange bevor sie von der Nationalversammlung dekretiert wurde, ohne diese autonome, aufständische Bewegung des bewaffneten Volkes wären die alten Institutionen niemals gefallen und wäre das revolutionäre Bürgertum niemals in der Lage gewesen, ihr parlamentarisches Regime durchzusetzen.
Es gab in dieser Revolution also, was es in jeder Revolution gibt: eine politische Bewegung und eine volkstümliche Bewegung. Als Verfechter der ersten, die autoritären Revolutionäre, die radikalen Bürgerlichen, die Jakobiner, welche die volkstümliche Bewegung für die eigenen politischen Ziele ausnutzten und zu lenken versuchten. Als Verfechter der zweiten, die freiheitlichen Ideen und Kräfte, die „Anarchisten“, wie sie abschätzend genannt wurden, die nicht in den Versammlungen und Parlamenten, sondern auf den Strassen agitierten, die die autonome und direkte Aktion des Volkes unterstützten und förderten, die vor den politischen Betrügern warnten und gegen die Einrichtung einer neuen herrschenden Klasse weiterkämpften, für die tatsächliche Gleichheit, für den Wohlstand aller. Während das aufstrebende Bürgertum einzig daran interessiert war, sich die Privilegien zu sichern, die es sich durch den Sturz des Feudalregimes erwarb, den revolutionären Prozess zu beenden und eine neue Regierung einzurichten, entwickelte sich also eine Bewegung, die weit über das Programm der bürgerlichen Revolutionäre hinaus wollte und begann, das kommunistische Prinzip einer freien und egalitären Gesellschaft zu fördern: die Abschaffung des Privateigentums an Boden und Produktionsmitteln, das seit jeher die Grundlage der Ausbeutung bildet.
Aber, wie wir wissen, wurden die grossen freiheitlichen Prinzipien, die im Laufe dieser Revolution aufblühten, spätestens mit der Schreckensherrschaft der Jakobiner und der darauffolgenden Reaktion, endgültig im Blut ertränkt, guillotiniert, erhänkt und erschossen – um nur in ihrer bürgerlichen Farce fortzubestehen. Die Freiheit wurde zur Markt- und Ausbeutungsfreiheit, die Gleichheit zur (sehr relativen) Strafgleichheit vor dem Gesetz, die Brüderlichkeit zum falschen Klassenfrieden und zum uniformierten Brudermord im Namen des Vaterlandes.
Das Bürgertum, also die wohlhabende, Land und Industrien besitzende Schicht, sicherte sich mit der neuen Gesetzgebung die Macht in den Parlamenten (ausschliessliche Wahlbeteiligung ab einem gewissen Grad an Vermögen), und verschuf ihren industriellen Unternehmen, mit dem Aufkauf der Feudalgüter und der Aufhebung der Handelskontrolle, freie Hand zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und, vor allem, der Arbeiter. Die grosse Masse des einfachen Volkes, nach hunderten Aufständen und tausenden Toten, endlich von der feudalen Knechtschaft, den aushungernden Abgaben und der königlichen Willkür befreit, sah sich nun also, ausgenutzt und betrogen, dem „Laisser faire“ der neuen, liberalen Ordnung der bürgerlichen Arbeitgeberschaft ausgeliefert.
Die schmerzhafte Lektion, die aus dieser „Grossen Revolution“ gezogen werden muss, sowie aus so vielen anderen, in denen sich ähnliche Abläufe wiederholten: Wenn das ausgebeutete Volk wirklich eine Revolution will, die es von seinen Leiden und Zwängen befreit, dann muss es diese alleine machen, autonom und selbstorganisiert, und zwar bis auf den Grund, ohne und gegen alle Arten von Politikern, die daherkommen mögen und meinen, ihre Interessen zu repräsentieren, nur um schliesslich ihre eigenen Klasseninteressen und eine neue Privilegienordnung durchzusetzen; dann muss diese Revolution eine volkstümliche und soziale Revolution sein, und nicht bloss eine politische. Dies ist die grundlegende Lektion, woraus sich, später, die spezifische anarchistische Bewegung entwickeln wird.

Die Industrialisierung und die Arbeiterbewegung

Der Aufstieg der bürgerlichen Klasse und die politische Umwälzung, die mit der französischen Revolution in zahlreichen Ländern in Gang kam, hat also, wie bereits angesprochen, der wachsenden Industrialisierung den Weg geebnet. Es ist die Zeit der ersten maschinellen Fabrikanlagen und der grossen Umsiedlung vom Land in die Städte, in die entstehenden Arbeiterquartiere. Immer mehr Leute, die bis dahin zwar arm, aber in relativer Autonomie lebten, sahen sich gezwungen, die unlukrativ gewordene Tätigkeit als Bauer oder Heimarbeiter zu verlassen und sich in die sich verbreitenden Fabriken zu begeben, um dort, nach fixen Zeiten und unter Aufsicht, das einzige zu verkaufen, was sie hatten: ihre Arbeitskraft.
Aber die Einführung dieser neuen, viel effizienteren Ausbeutungsform, welche unzählige Leute ihrem sozialen Kontext entriss und in diesen Fabriken einschloss, verbannt dazu, Tag für Tag dieselbe monotone Geste zu wiederholen, verlief nicht so ruhig, wie sich das Bürgertum das gerne wünschte. In vielen Ländern brach eine Welle von Aufständen, von „Maschinenstürmerei“, gegen die aufkommende industrielle Ausbeutung aus, und allein in England wurden, zwischen 1811-12, von der Bewegung der „Luddisten“ mehr als tausend Maschinen zerstört und mehrere Fabriken in Brand gesteckt. Die Intervention der Armee und die Einführung der Todesstrafe für Maschinenstürmerei waren nötig, um diese Bewegung niederzuschlagen. In der Schweiz gipfelte der Unmut im Aufstand von Uster, wobei eine der ersten industriellen Webereien in Brand gesteckt wurde.
Die wachsende Konzentrierung der Ausbeutungsbedingungen in den Fabriken und in den damit verbundenen Arbeiterquartieren stärkte in vielen das Bewusstsein ihrer Position als unterdrückte Klasse, und förderte, über die Jahre hinweg, das Aufkommen der „Arbeiterbewegung“. Diese letztere beginnt immer deutlicher, durch die Ausarbeitung der sozialistischen Ideen, die sich, ansatzweise, schon in der französischen Revolution manifestierten, vereint durch die generische Idee einer Kollektivierung der Produktionsmittel, das Projekt einer klassenlosen, selbstverwalteten und freien Gesellschaft zu entwickeln.
Diese Ideen waren stark geprägt von den aufklärerischen Mythen des Fortschritts, der Wissenschaft und des Historizismus, die in dieser Zeit auflebten und die allesamt, als angeblich neutrale Kräfte der menschlichen Vernunft, geradewegs in Richtung einer freien Gesellschaft führen würden. Daher auch die Vorstellung einer Revolution als schlichte andere soziale Organisation – nicht mehr durch eine herrschende Klasse von Besitzenden, sondern selbstverwaltet und solidarisch von den Arbeitern selbst – der bestehenden Produktionswelt. Eine Vorstellung, welche die Rolle der Produktionsmittel selbst, die in der Logik von Ausbeutung und Herrschaft entstanden und geformt wurden, ausser Acht lässt. Etwas, das, unserer Meinung nach, wenn es damals schon fragwürdig war, besonders heute, nach den tiefgreifenden Umstrukturierungen durch die nuklearen, telematischen und informatischen Technologien, radikal in Frage gestellt werden muss. Aber gehen wir der Reihe nach.
Die Macht wurde also, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, als Struktur, die die ganze Gesellschaft durchdringt, immer sichtbarer, die Funktion des Staates und seiner Institutionen, als Stütze und Verteidigung der kapitalistischen Produktionsstruktur, immer aufgegliederter. Die Ausbeutung, die ausbeutende Klasse, die „Bourgeoisie“ war etwas klares, etwas monolithisches, das man deutlich vor sich hatte, das sich in den Fabriken, den Kasernen, den Palästen, den Persönlichkeiten, etc. manifestierte. Der Anblick von all dem, Manifestierungen des Selbstbewusstseins einer sich ihres Triumphes sicheren Klasse, musste schrecklich gewesen sein, besonders nach den Massakern zur Niederschlagung der Aufstände von 1848 und der Pariser Kommune von 1871. Ein Eindruck, der heute noch andauert, wenn wir die pompösen architektonischen Überbleibsel aus dieser Zeit betrachten, wahre Symbole der Unterdrückung. Angesichts dieser zentralistischen, monolithischen Manifestierung der Macht im alltäglichen Leben der Leute, folgerten viele mit der Notwendigkeit, sich zu vereinen, mit der Gegenüberstellung, in derselben Logik, einer Art „Gegenmacht“, mit der Kreierung von zentralistischen Strukturen zur Verteidigung der Interessen der Ausgebeuteten. Es ist das Aufkommen der ersten Arbeiterparteien, und später der Gewerkschaften.

(Fortsetzung in der nächsten Nummer des „Aufruhr“)

(Es folgt eine Analyse der Rolle der Parteien und der Gewerkschaften, sowie der anarchistischen Kritik an diesen Mitteln, die, im Grunde, die Logik der Macht reproduzieren und die Ausgebeuteten in den Betrug der Delegation und Repräsentation verwickeln, anstatt sie zur selbstständigen, direkten Aktion zu ermutigen. Der Aufschwung der Arbeiterbewegung, in einer Periode, die von der sozialen Frage, von Aufständen und Revolutionen geprägt war, wird schliesslich durch die zwei Weltkriege beendet. Doch die Widersprüche, denen die industrielle Gesellschaft entgegengeht, führen bald zu neuen Konflikten, denen nur mit einer tiefgreifenden Umstrukturierung der gesamten Produktionsordnung abgeholfen werden kann. Die Einführung der telematischen Technologien, welche die Aufstückelung und Flexibilisierung der zentralisierten, starren Industrien ermöglicht, bringt solche Veränderungen auf sozialer, ökonomischer und politischer Ebene mit sich, dass die Terme des Klassenkonfliktes, wie wir ihn bis anhin kannten, umfassend neu gestellt werden müssen. Die Mauer, die zwischen den Ausgebeuteten und den Privilegierten verläuft, wird heute, in den „post-industriellen“ Gesellschaften, dank der Möglichkeiten der automatisierten Produktion und der Kommunikationstechnologien, weniger aus materieller Armut und roher Repression, sondern vielmehr aus kultureller Verarmung und Konsensverschaffung errichtet (man kann nicht mehr nach etwas anderem verlangen, wenn einem die Möglichkeit genommen wurde, es zu verstehen). Die Dezentralisierung der Produktion hat die parteilichen und gewerkschaftlichen Modelle, sowie die entsprechenden revolutionären Ideologien der Vergangenheit, von mehr oder weniger autoritärer Prägung, endgültig entkräftet, und somit die Gültigkeit der anarchistischen Methode bestärkt. Sie hat aber auch einen neuen Typ Mensch hervorgebracht, flexibel, anpassungsfähig und wenig bereit, zu kämpfen, während die Revolten, die trotz allem aus den unterdrückten Schichten hervorbrechen, oft das Zeichen der Perspektivenlosigkeit tragen. Die Mittel und Wege für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes, unter diesen Bedingungen, müssen also umfassend neu betrachtet werden.)

 


 

Publikationen

 

Bei den „Konterband Editionen“ wurden 4 Broschüren und 3 Bücher gedruckt. Diese sind in der Bibliothek FERMENTO erhältlich oder können per E-Mail (konterbandeditionen@gmail.com) bestellt werden.

Die RebellionAlfredo M. Bonanno

Der Skeptiker, zu tiefst rational, findet immer Rechtfertigungen, um nicht zu rebellieren. Kritisch, aber so kritisch, dass ihm jede Aktion unmöglich wird, merkt er nicht, dass er sich genau gemäss den gewünschten Normen verhält. Aber die Rebellion geht nicht von einer reinen Rationalität aus, ihre Mündungen sind nicht berechenbar. Sie erfordert zuallernächst den Bruch, ein Abweichen von dem, was von der Kollektivität als „rational“ und als „richtig“ betrachtet wird, den Mut, und auch eine gewisse „Überstürztheit“, um das Ungewisse zu wagen. Gewiss hat sie sehr rationale Gründe, aber sie hat auch Gründe des Herzens. Ausgehend von diesen Feststellungen werden in dieser Broschüre die Bedingungen analysiert, die zum Entstehen des Rebellen beitragen, den es in allen Klassen gibt. Im Rahmen von Tendenzen werden einige Elemente zwischen ungeordneter und bewusster Rebellion differenziert. Denn, wenn ein Kämpfer für die Freiheit immer, notwendigerweise, ein Rebell ist, so ist ein Rebell nicht immer ein Kämpfer für die Freiheit.

Format: Broschüre 10 x 15 cm, 24 Seiten
1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr. 1.50

 Um die Rechungen zu begleichenLope Vargas

Eine Untersuchung über die Justiz, ein Konzept, dessen Ursprung sich in der Nacht der Zeit verliert, und das heute, in unserer Gesellschaft, namentlich in Gerichten und Gefängnissen seinen Ausdruck findet. Die Gesetze der Justiz, kreiert von einem sehr menschlichen, und gewiss nicht einem „göttlichen“ Willen, wie ursprünglich behauptet, haben schon immer die Interessen jener beschützt, die auch die Autorität besassen, sie zu erlassen. Die Justiz, als den Menschen übergeordnete Institution und Norm, egal in welcher Form, wird immer ein Werkzeug der Unterdrückung sein, auch in den Händen von Revolutionären. Sich gegen die Justiz, gegen das „Recht“ zu erklären, bedeutet also keineswegs, für die Ungerechtigkeit zu sein. Es bedeutet schlicht und einfach, davon auszugehen, dass die menschlichen Konflikte – die es auch in einer Gesellschaft, die von den heutigen Klassengegensätzen und der Ausbeutung und Verelendung der Menschen befreit ist, dennoch immer geben wird, es sei denn wir beabsichtigen, sie in eine Klostergemeinschaft zu verwandeln –, dass diese Konflikte in ihrer Einzigartigkeit und von Seiten der direkt Involvierten angegangen werden müssen, und nicht anhand von allgemein aufgezwungenen Regeln (Strafgesetzbuch) und übergeordneten repressiven Instanzen (Gerichte und Gefängnisse).

Format: Broschüre 10 x 15 cm, 20 Seiten
1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr. 1.50

Malatesta und das Konzept von revolutionärer GewaltAlfredo M. Bonanno

Ausgehend von Zitaten von Malatesta, die sich in einfacher und klarer Sprache mit der Frage der revolutionären Gewalt und ihren moralischen Implikationen auseinandersetzen, werden diese Überlegungen von Alfredo Bonanno vertieft und ergänzt, und in den heutigen Kontext gestellt. Die Frage ist hier nicht, Rechtfertigungen oder Verurteilungen zu liefern. Der soziale Konflikt, der zwischen den Unterdrückenden und den Unterdrückten besteht und der sich immer wieder gewaltsam äussert, wird solange fortdauern, wie diese Bedingungen fortdauern, unabhängig von unseren Urteilen. In diesem Beitrag geht es schlicht darum, diese Frage, die immer wieder für Missverständnisse sorgt, unter ihren verschiedenen moralischen und praktischen Aspekten zu beleuchten. Die Anarchisten sind für die Beseitigung der rohen Gewalt aus den sozialen Verhältnissen, und eben darum gegen den Kapitalismus und den Staat, doch unter den gegenwärtigen Bedingungen, wenn wir nicht für das Fortbestehen der grösseren und allgemeinen Gewalt dieser Ordnung mitverantwortlich sein wollen, ist es unumgänglich, sich gewaltsam gegen jene aufzulehnen, die ihre Aufrechterhaltung verteidigen. Die Gewalt ist ein Übel. Aber, auch wenn beide von ihr Gebrauch machen mögen, das Verlangen nach Freiheit stellt sich der Logik der Macht diametral gegenüber. Und gerade in dieser Frage drückt sich diese Andersheit besonders deutlich aus.

Format: Broschüre 10 x 15 cm, 52 Seiten
1 Stk.: Fr. 0.30 | 10 Stk.: Fr. 2.50

Für die Umwälzung der WeltAnonym
Broschüre, 24 S., Fr. 0.30

Eingeschlossen – Gedanken über das Gefännis – Alfredo M. Bonanno
Büchlein, 108 S., Fr. 4.-

Reise ins Auge des SturmsPierleone M. Porcu
Büchlein, 158 S., Fr. 4.-

Wie ein Dieb in der Nacht – Anarchismus zwischen Theorie und Praxis – Alfredo M. Bonanno
Büchlein, 152 S., Fr. 4.-


 

Unruhenachrichten

Justiz

Vor kurzem wurde öffentlich, was vor einigen Monaten geschah: Ein Mann, wie täglich so viele Arme, verurteilt dafür, die legalen Diebe illegal bestohlen zu haben, lauerte in Luzern seinem Richter auf und polierte ihm das Gesicht. Ein Sonderfall, scheinbar, in der Geschichte dieser Institution. Komisch eigentlich. Verurteilen diese Hämmerchenschwinger doch täglich Menschenleben zu Sklaverei und Kerker. Aber was, wenn die von unten die Justiz von oben nicht mehr achten? Ein Alptraum des Bürgertums! Vielleicht ein Grund des langen Verschweigens?

Migration

Einige Tage nach dem x-ten Massenansturm auf den Militärzaun nach Europa, bei den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, ein Zeichen der Solidarität in Zürich: Die Konsule des spanischen Staates, verantwortlich, wie alle Staatsmänner, für die Hetzen und Massaker von Migranten, fanden ihren Arbeitsplatz mit Durchzug und Scherben vor..


 

Zitate

« Jedermann, der seine Hand über mich ausstreckt, ist ein Usurpator und ein Tyrann, und ich erkläre ihn zu meinem Feind.
Regierung ist Sklaverei, ihre Gesetze sind Spinnweben für die Reichen und Stahlketten für die Armen. Regiert zu werden, bedeutet, überwacht, inspiziert, ausspioniert, reguliert, indoktriniert, kontrolliert, verurteilt und zensuriert […] zu werden.
Regiert zu werden, bedeutet, in jeder Aktion und Transaktion registriert, abgestempelt, besteuert, patentiert, autorisiert, bewertet, bemessen, reformiert, zurechtgerückt, korrigiert und zunichtegemacht zu werden.
Mit dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit will es heissen, ausgebeutet, monopolisiert, missbraucht, beraubt, und dann, beim ersten Widerstand oder Klagewort, mit Bussgeld belegt, schikaniert, verunglimpft, kaltgemacht, verprügelt, entwaffnet, vor Gericht geführt, verurteilt, eingekerkert, […], deportiert, verkauft, verraten, hintergangen, betrogen, beleidigt […] zu werden.
Dies ist die Regierung, dies ist ihre Gerechtigkeit, dies ist ihre Moral!. »


 

Veranstaltungen

 

Jeden Donnerstag von 18:00-20:00 Uhr

Treffen gegen das PJZ

Für alle, die genug haben von dem politisch-demokratischen Zirkus und selbstbestimmt und direkt gegen den Bau des PJZ (Polizei- und Justizzentrum) kämpfen wollen.

Mit Info-Tisch und Kaffee

17. April, Kanzleiareal, 25. April, Hardplatz, 1. Mai, Bäckeranlage, 8. Mai, Bullingerplatz

 

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